Streicheleinheiten  - Wichtiger als Vitamine

Berührungen tun auch ohne Frühlingsgefühle gut

 

Streicheleinheiten vom Liebsten, die Umarmung von der besten Freundin, ein anerkennendes Schulterklopfen vom Chef- es gibt unzählige Möglichkeiten, berührt zu werden. Dabei müssen gar keine zweideutigen Gefühle im Spiel sein. Wohl gemeinte Berüh­rungen tun schlichtweg immer gut und sind lebensnotwendig. Den­noch kommen sie im Alltag meist zu kurz, sind fast verpönt. Denn welcher Mann, welche Power-Frau traut sich schon offen einzu­gestehen, dass sie sich insgeheim nach einer solchen Nähe sehnen?

 

Das uralte menschliche Bedürf­nis"    nach    Hautkontakt   ist einfach  nicht  zu  verdrängen,  so Psychologin Eva Gesine Baur, viel­mehr registriere sie eine wachsen­de Sehnsucht". Allen Berührungs­ängsten zum Trotz bahnt sich der persönliche Wunsch   nach   Nähe seinen  Weg  -  und  sei  es  über Wellness-Angebote. Anstalt ganz selbstverständlich durch Streicheln unser Verlangen  nach  Berührung zuzugeben   und   zu   befriedigen, delegieren   wir   es",   beobachtet Baur. Massagen hätten in den 90er Jahren in der westlichen Welt einen sensationellen Boom" erlebt - ob Reflexzonen-  oder Antistressmassage, Reki oder Shiatsu. Ein Grund: Je anonymer das Leben im Zeitalter von   Internet   und   zunehmender Technisierung   wird,   desto   mehr vermissen Menschen den alltägli­chen menschlichen Brückenschlag. Die Folge: Wir wollen die Welt wieder begreifen", so die Psycholo­gin. Streichelzoos und abgedunkel­te Tastmuseen belegen diese Be­obachtung.

 

Auf der Suche nach Geborgenheit

In der komplizierter werdenden Well sind für Eva Baur Berührungen ein Synonym für Sicherheit, Ge­borgenheit und Vertrauen". Sie gelten als die wesentlichsten und ersten Sinnesempfindungen des Menschen überhaupt, schreibt Baur in ihrer Untersuchung „zur Psychologie der Berührungen“. Wohl wollende Berührungen ohne sexuelle Absicht wie- beim Massie­ren oder Streicheln gehören aus Sicht der Psychologin zu den wenigen stressfreien zwischen­menschlichen Kontakten. Das Ge­heimnis der Wirkung sieht Baur darin, dass etwa beim Streicheln kein Leistungsdruck entsteht. Ein weiterer Grund für den wohltuenden Effekt: Neben der eigentli­chen Berührung erfährt das Gegen­über das Gefühl von Zuwendung, Fürsorge und Hilfsbereitschaft. Doch Berührung wird erst dann wirklich berührend, wenn sie nicht nur rein mechanisch ist, sondern die Qualität von Wertschätzung, Offenheit und Liebe annimmt.

 

Arm an menschlicher Nähe

Dennoch tun sich im Alltag viele Menschen schwer,  Berührung zu­zulassen und selbst zu berühren. So sieht es Denny Johnson, Buchautor und   Experte  für   Kinästhesie,   zu Deutsch        Bewegungswahrneh­mung. Die Menschen seien heutzu­tage  zwar  reich  an  materiellen Gütern, aber hoffnungslos arm an menschlicher   Nähe". Millionen Menschen  leiden laut Johnson seelisch und körperlich, weil sie aus Angst nicht in der Lage sind, Berührung zu geben und zu emp­fangen. Dabei   hungerten   Men­schen geradezu danach. Wissen­schaftler gehen  davon  aus,  dass Berührungen für die Entwicklung des Menschen sogar wichtiger sind als Vitamine. Für die weit verbreite­te Angst, auf   Tuchfühlung    zu gehen, sieht Johnson unterschied­lichste Gründe: Die einen haben in ihrer Familie keine liebevolle Zu­wendung erlebt, andere fühlen sich unbeholfen, sind schüchtern oder fürchten, dass ihre Berührungen als Annäherungsversuch   missverstan­den werden könnten.

 

Doch ohne Körperkontakte bleibt das Leben leer und isoliert. Denn wer berührt, wird zwangsläu­fig auch selbst berührt - auch im emotionalen Bereich. Nicht um­sonst beobachtet die Psychosomatik, wenn einem Menschen etwas unter die Haut geht". Die ist mit rund 1,7 Quadratmetern Ausdeh­nung nicht nur das größte Organ des Körpers, sondern zugleich auch das sensibelste: Auf einem Quad­ratzentimeter befinden sich gut fünf Millionen Nervenenden. Warum tut es nun so gut, gestreichelt zu werden? Die nüchterne Erklärung der Biologie: Druckrezeptoren in der Unterbaut veranlassen die Ausschüttung von entspannenden Endorphinen, einer Art körpereige­nem Glückshormon.

 

Berührungen tun aber nicht nur gut, sie können auch heilen. Ihre gesundheitsfördernde Wirkung ist erwiesen. Bei der Känguru-Methode etwa wird Eltern ihr zu früh geborenes Kind immer wieder auf die nackte Haut gelegt, um denn Frühchen die vorzeitig entzogene Wärme und Ruhe wiederzugeben. Das Streicheln des Neugeborenen und die Möglichkeit, Körpergeruch und -geräusche sowie die Bewe­gung der Eltern wahrzunehmen, fördert den gegenseitigen Kontakt und das Vertrauen des neuen Erdenbürgers in die Welt.

 

Dabei wurde die positive Wir­kung des Känguruens" durch rei­nen Zufall entdeckt. Wegen eines Mangels an Brutkästen entschlos­sen sich kolumbianische Kinderärzte notgedrungen, stattdessen die Mutterwärme zu nutzen. Mit unge­wöhnlichem Erfolg: Fast alle Kinder überlebten auch ohne technische Hilfe - und waren später sogar anderen Frühgeborenen in ihrer Entwicklung um zwei Jahre voraus. Mediziner bestätigen immer wie­der, dass Hautkontakt den Reifeprozess und die Entwicklung för­dert. Umgekehrt können nach Expertenmeinung viele Suchter­krankungen auf fehlende körperli­che Zuwendung in der Kindheit zurückgeführt werden. Streichel­einheiten machen Kinder wie Er­wachsene selbstbewusster und be­lastbarer.

 

Die Festhalte-Therapie bestätig! dies. Die simple wie effektive Methode: Kinder, aber auch Er­wachsene werden so lange im Arm gehalten, bis sie sich allen Kummer von der Seele geweint oder geredet haben. Das Erfolgsgeheimnis: Wer lange und liebevoll in einer ver­trauensvollen Atmosphäre gehalten wird, bei dem bröckelt die bisher mühsam aufrecht erhaltene Fassa­de; bisher verborgene Gefühle brechen hervor. Durch das Gehal­tenwerden lässt man los", erklärt Ursel Maurer, man darf seine Gefühle zeigen und sich fallen lassen." Maurer gründete 1987 in Stuttgart das Eltern Forum Holding, eine Selbsthilfegruppe für Eitern mit schwierigen Kindern. Verstock­te und trotzige Heranwachsende tauen beim Gehaltenwerden auf, fangen oft an, bitterlich zu weinen. und werden schließlich ganz friedlich und ausgeglichen.

 

Die Mitte wiederfinden

Maurer schätzt an der Methode, dass dadurch die Liebe „wieder ins Fließen" kommt. Zudem entspre­che das Halten des Kindes ohnehin dem Mutterinstinkt: „Es ist eigent­lich etwas ganz Normales, wenn man sein Kind fest in den Arm nimmt, wenn es weint oder getrös­tet werden will, bis es seine Mitte wiedergefunden hat." Die Holding-Therapie wurde Anfang der 70er Jahre in den USA entwickelt. Angewendet wird sie von Eltern verhaltensauffälliger Kinder, aber auch bei Erwachsenen durch Therapeuten in psychosomatischen Kliniken. Maurei hat selbst die heilsame Wirkung des Gehaltenwerdens erlebt. Als Kind war sie mit ihren Eltern im Krieg auf der Flucht und erlebte dort viel Belas­tendes. „Beim Festhalten habe ich mich endlich mal getraut, Hilfe zu rufen - ich hatte nämlich aufgehört, mich anderen anzuvertrauen."